Paul Kuhn wird Ehrenmitglied der DSS
von Tim Bialek
Ein historischer Ort ist es ja eh schon. Das Köpenicker Rathaus war am Anfang des letzten Jahrhunderts Schauplatz eines Ereignisses von historischer Tragweite; fast 100 Jahre später sollte es erneut den Rahmen für historische Begebenheiten werden…
Am 16. Oktober 1906 hatte der Schuster Wilhelm Voigt an dieser Stelle in der Uniform eines Hauptmanns mit einer Abordnung von Soldaten, die er spontan auf der Straße unter sein „Kommando“ stellte, den Bürgermeister von Köpenick und seinen Stadtkämmerer verhaften lassen und war mit der Stadtkasse von 4000 Reichsmark und 37 Pfennigen geflohen. Die Berliner Zeitungen waren voll mit dieser Posse, die, wie kaum eine andere, das preußische Obrigkeitsdenken entlarvte und später von Carl Zuckmayer für ein Theaterstück verwendet wurde.
Am 22. August 2003 schlägt erneut eine historische Stunde, denn Paul Kuhn gastiert an diesem Abend mit einer erlesenen Schar von Jazzmusikerinnen und –musikern auf der Bühne des Innenhofs des altehrwürdigen Gebäudes. Für mich ist es ohnehin ein ganz besonderer Abend, denn heute werde ich zum ersten Mal dem Mann persönlich gegenüberstehen, dessen Musik ich schon als kleiner Steppke durch meinen Vater zu hören bekam. Paul Kuhn leitete zu dieser Zeit die Big Band des Senders Freies Berlin und unter dem Titel „Tanzmusik“ hatte er im Fernsehprogramm des SFB sogar Anfang der 70er eine eigene Sendung, die auf große Resonanz stieß und speziell auf Wünsche der Zuschauer einging. Mehrere Platten sind davon produziert worden und eine davon drehte sich bei uns zu Hause regelmäßig auf dem Plattenteller.
Die Hits der Swingära prägten sich somit schon früh bei mir ein, unvergessene Titel wie „Honeysuckle Rose“, „Some Of These Days“ oder „Two O’Clock Jump“, die den Original-Arrangements der Bands von Fats Waller, Teddy Stauffer oder Harry James nachempfunden waren. Eben diese Platte gehört jetzt mir und sie dreht sich gerade, während ich das hier schreibe…
Paul Kuhn1
Paul Kuhn1
An eben jenem Freitag Abend finde ich mich mit einem großen Bilderrahmen bewaffnet vor dem Rathaus ein und treffe in der Schlange auch gleich meine Mitstreiter Ulrich Brietzke und Carsten Nemitz. Später im Innenhof laufen wir dann auch noch Marcus Prost über den Weg. Einen freien Platz zu finden ist zu dieser Zeit bereits schwierig und ich sehe mich schon an die Hauswand gelehnt in der letzten Reihe sitzen…
Als wir bereits zweimal den Platz gewechselt haben, rufe ich nochmals den Manager von Kuhn an. Frank Kleinschmidt hat sich bereits in den vorangegangenen Tagen als stets hilfsbereit und zuvorkommend erwiesen. Kuhn habe sich sehr gefreut, als er von der bevorstehenden Auszeichnung erfahren habe, hatte er mir schon erzählt. Wie lange wir denn brauchen würden für die Zeremonie, hatte er mich einen Tag vorher gefragt. „Vielleicht eine Stunde?“ Ich hoffte, dass er das Schlucken auf der anderen Seite der Leitung nicht gehört hatte. „Nein, nein, ich denke, 15 Minuten werden reichen“, stammelte ich. Um Gottes Willen…eine Stunde…
Jetzt erfahre ich am Telefon, dass alle nach dem Soundcheck erst mal wieder ins Hotel gegangen sind und das Ganze am besten in der Pause steigen sollte. Ob wir denn schon vorne Platz genommen hätten, fragt er mich. „Vorne?“ Meine Frage wird sehr ungläubig geklungen haben. Das Ende vom Lied ist, dass wir alle „selbstverständlich“ eingeladen seien, vorne an den reservierten Tischen Platz zu nehmen. Und so finden wir vier uns sozusagen im VIP-Bereich wieder: „Reserviert für Presse und Sponsoren“ steht da zu lesen. Naja, irgendwie sind wir ja beides…
Dass die ganze Prozedur jetzt erst in der Pause vonstatten gehen soll, trägt nicht unbedingt dazu bei, meine Nervosität zu reduzieren. Ich rede mir ein, dass ein Wernesgrüner da wahre Wunder wirken wird…
Pünktlich um 20 Uhr betritt die Hauptperson dieses Abends unter dem frenetischen Beifall des Berliner Publikums die Bühne. Mit ihm sind Paul G. Ulrich am Bass und Willy Ketzer am Schlagzeug erschienen und alle drei legen gleich mit „It Don’t Mean A Thing (But It Ain’t Got That Swing)“ ein Mordstempo vor. Auch Paul Kuhns tiefe, rauchige Stimme kommt bei dieser fulminanten Eröffnungsnummer zur Geltung. Danach kommen die weiteren Instrumentalisten dieses Abends auf die Bretter, die immer noch die Welt bedeuten. Es ist ein „Who Is Who“ der europäischen und amerikanischen Jazz-Szene: Die Trompeter Dusko Goykovich und Benny Bailey, die Saxophonisten Gustl Mayer und Peter Weniger (der einzige aus Berlin), sowie der Posaunist Bart van Lier. Sie alle beginnen jetzt mit den Zuhörern den „Florida Flirt“, eine funkige Eigenkomposition von Paul Kuhn. Hernach tritt jeder abwechselnd solistisch in Erscheinung: Goykovich in einem wunderbar gefühlvollen „Summertime“, Peter Weniger in einem swingenden „There’s No Greater Love“ oder Bart van Lier in „Soon.“ Das Programm promotet selbstverständlich auch die neu erschienene CD „Paul Kuhn and the Best: Young At Heart“, auf der viele dieser Stücke zu hören sind und die von Frank Kleinschmidts „In+Out“ Label produziert wurde.
Als mit der Holländerin Greetje Kauffeld, deren Stimme ich aus vielen eigenen Mitschnitten des WDR-Programms kannte, nun auch eine charmante Dame das Podium betritt, beginnt zum ersten Mal an diesem Abend auch die Erinnerung an Frank wach zu werden. Sie singt ein wunderbar melancholisch-einfühlsames „My Funny Valentine im Duett mit Goykovichs gestopfter Trompete und ein frisch-swingendes „Just In Time“ im Gesangsduett mit Kuhn.
Und so ging der erste Teil des Konzerts zu Ende und das Bier hatte nur wenig geholfen, meine Nervosität im Zaun zu halten. Kaum sind alle von der Bühne, holt uns Frank Kleinschmidt von unserem Tisch ab, und wir gehen im Gänsemarsch eine Treppe hinunter in einen Flur, in dem uns Kuhn bereits erwartet. Fast ist es ein Bild wie auf einem CD Cover: In einer Hand eine Zigarette, die andere lässig in der Hosentasche. Unversehens stehe ich einem recht kleinen, freundlich lächelnden Mann gegenüber. So, als ob ihn keiner kennen würde, stellt er sich mit Namen bei jedem vor.
Nach dieser Begrüßung betreten wir ein helleres Zimmer, in dem sich auch noch Gustl Mayer und Greetje Kauffeld aufhalten und Zeuge der Zeremonie werden. Kuhn steht dicht neben mir, immer noch mit der Zigarette in einer Hand, als ich ihm in einigermaßen zusammenhängenden Sätzen sage, weswegen wir hier sind. Sofort gab er zu erkennen, dass er sich sehr geehrt fühle.
Ich schildere ihm die Entstehung der DSS, das Kennenlernen über das Internet, die Ziele und Tätigkeiten des Vereins. Man merkt die ganze Zeit, dass er sehr interessiert zuhört; er ergänzt manchmal meine Sätze; ich bin mir sicher, es geht nicht „in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.“ Als ich den Namen Sinatra zum ersten Mal erwähne, gibt es ein laut vernehmliches „Oooh..“ von den ebenfalls anwesenden Mayer und Kauffeld. Von Kuhn kommt, wie aus der Pistole geschossen, der Satz: „Da bin ich ja genau der Richtige!“
Ich komme auf das Thema Ehrenmitgliedschaften und erzähle ihm, dass das Votum, ihn mit dieser Auszeichnung zu betrauen, einstimmig ausgefallen war. Es folgen eine leichte Verbeugung des Angesprochenen und ein lautes „Bravo!“ von Gustl Mayer. Als ich meine kleine Rede mit einem Zitat von Kuhn schließe, der einst sagte: „Wenn einer so singt, dann soll er so singen wie Frank Sinatra“, ergänzt er mit einem Augenzwinkern: „…oder er soll den Mund halten.“
Die Urkunde und die „Voice“ Nr. 9 mit dem Artikel über Kuhn von Thomas Blaser werden überreicht und kurz erläutert. Kuhn beteuert nochmals, dass er sich sehr geehrt fühle. Carsten Nemitz ist so nett und macht ein Foto von uns allen.
Es folgt ein kleiner Smalltalk, in dem z.B. Gustl Mayer sagt: „Wir mögen ihn (Sinatra) ja alle.“ Schließlich erfolgt unter nochmaligen Dankbezeugungen die gegenseitige Verabschiedung. Kuhn wünscht uns noch einen schönen Abend und Kleinschmidt erzählt uns auf dem Weg nach draußen, dass noch einige Stücke folgen werden, die an Sinatra erinnern.
Er sollte Recht behalten, denn der zweite Teil des Abends wird tatsächlich sehr „sinatralastig“ werden. Bevor es damit losgeht, wird Kuhn allerdings noch eine weitere Ehrung zuteil: Auf der Bühne wird ihm von den Mikrofonherstellern Neumann/Sennheiser ein spezielles, nur für ihn gebautes Mikrofon mit der Inschrift „Made for Paul Kuhn“ überreicht. In diesem Moment bin ich ganz froh, dass unsere Ehrung im privaten Rahmen ablief…
Aber zurück zum Programm: Es geht los mit „London By Night“ im Medium-Swingtempo und Kuhns dunkler Stimme. Nachdem Benny Bailey, der in seinen Spielpausen an unserem Tisch sitzt, mit „Home“ an den unvergessenen Louis Armstrong erinnert und mit „Heading South“ wieder eine Eigenkomposition vom „Mann am Klavier“ ertönt, bei dem sich wieder alle Instrumentalisten auf der Bühne einfinden, ist wieder „Frank-Zeit“: Greetje Kauffeld intoniert „Fly Me To The Moon“ und danach mit Kuhn zusammen den Titelsong der neuen CD „Young At Heart.“
Nach zwei ebenso frenetisch geforderten wie umjubelten Zugaben („Route 66“ und „Stitt’s Tune“) geht dieser unvergessene Abend nach drei Stunden zu Ende. Wir trennen uns und ich hänge auf dem Fußmarsch zum Heim meiner Freundin meinen Gedanken nach. Gibt es eine schönere Gelegenheit, den eigenen 35. Geburtstag einzuleiten? Wohl kaum… Wie heißt das noch gleich? „Young At Heart?“ Tja, Bialek, wenn Du mit 75 noch so aussiehst wie Paul und dann vor allem noch soviel Spaß am Leben hast wie er, dann lohnt sich das Altwerden wirklich!
Ich habe einen zurückhaltenden, höflichen und vor allem völlig normalen Menschen kennen gelernt. Da waren keine Starallüren, nichts Affektiertes. Das ist ein Typ, mit dem Du ganz normal ein Bier trinken gehen kannst. Ich habe schöne Erinnerungen und die DSS einen absoluten Gewinn.
Ich nehme mir nochmal die alte Kuhn-Platte meines Vaters zur Hand. Die in Paul wohnende sprichwörtliche Bescheidenheit, gepaart mit einer guten Priese trockenen Humors, spürt man am besten, wenn man sich einfach mal die selbst verfassten Liner Notes durchliest. Da heißt es am Ende: „Es ist ein Klischee, am Ende einer Fernsehsendung zu sagen: Ich danke Ihnen für’s Zuhören!“. Ich kann mich also nach dieser Feststellung nun nicht mehr dafür bedanken, dass Sie diese Platte auflegen und anhören werden. Ich habe lediglich die Hoffnung, dass Sie es schon getan haben und nach mehrfachem Anhören, einfach aus Langeweile, diese Zeilen hier lesen. Wenn Sie Ihnen nicht gefallen, legen Sie einfach die Platte wieder auf. Sie ist sicher besser…“ So sei es.
Zum Schluss möchte ich mich ganz heftig bei allen bedanken, die diesen Abend möglich gemacht haben (keine Sorge, ich fange nicht bei meinen Eltern an…). Zu allererst bei meinen Mitstreitern Ulrich Brietzke, Marcus Prost und Carsten Nemitz, der auch das tolle Foto gemacht hat. Des Weiteren bei Michael Dörffler und Jörg Nierenz für das Layout von Urkunde und Magazincover, sowie bei Bernhard Vogel und Thomas Blaser für das Knüpfen der Kontakte zum Management.