Ein Mosaik
von Bernhard Vogel
A sigh is just a sigh.
— Herman Hupfeld (1894-1951), Zeile aus “As Time Goes By” (1931)
Damals waren die Studios richtig verqualmt. Das war schon super!
— Paul Kuhn (85) im Interview mit der „ZEIT“, März 2013.
I.
Paul Kuhn ist gestorben. Wer in den Monaten zuvor die Yellow Press verfolgte, den durfte dieser Nachricht Ende September nicht überraschen. Sein Kreislauf, sein Herz: all das wurde in diesen Wochen im Boulevard ausgebreitet. Aber darüber sollte man jetzt nicht schreiben. Er selber hätte das keinesfalls gewollt.
Paul Kuhn ist tot. Wer in den letzten sechzig Jahren den Swing in Deutschland verfolgte, den mußte diese Nachricht Ende September bestürzen. Sein Piano, sein laissez-faire: all das wurde über die Jahrzehnte hinweg immer wieder beschrieben. Aber darüber sollte man jetzt nocheinmal schreiben. Er selber hat es jedenfalls verdient.
II.
Dieser Tage vor etwas mehr als 20 Jahren, am 6. Juni 1993, verabschiedet sich Frank Sinatra mit einem phänomenalen Open-Air-Konzert auf dem Roncalliplatz direkt zu Füßen des Kölner Doms von seinem europäischen Publikum: „The Voice“, jener Sänger, den Paul Kuhn zeitlebens so sehr bewundert und über den er einmal gesagt hat, wenn jemand denn schon singe, dann müsse er am besten so singen wie Sinatra. Stunden nach dem Konzert steht Kuhn nächtens an der Bar des Kölner „Hyatt“-Hotels und schaut seinem Idol, über die strikte Raumabtrennung hinweg beim Whisky-Trinken zu…
*
Zeitsprung rückwärts, 40 Jahre vor Köln. Er sei Deutschlands „Jazzpianist Nummer Eins“: so lautet 1953 das Urteil der Jury über den damals 25jährigen Paul Kuhn. Der nimmt die Auszeichnung mit Freuden entgegen, darf er sie doch auch als ein Zeichen dafür verstehen, daß man nun offenbar auch in Deutschland jene Musik wertzuschätzten beginnt, der er schon als Teenager in den dunklen Zeiten der Nazi-Diktatur restlos verfallen war, nämlich dem Swing…
*
Zeitsprung vorwärts, gut 20 Jahre nach Köln, es ist der 29. August 2013. Stehend applaudiert das Publikum im Kasseler „Theaterstübchen“, als Paul Kuhn die Bühne betritt. Mühsam geworden ist der angestammte Weg zum Piano, er muß sich dabei helfen lassen. Das Konzert war eigentlich schon für das Frühjahr angesetzt gewesen, wurde aber krankheitsbedingt verschoben, und jeder im Zuschauerraum kann erkennen, daß es nicht zum besten steht mit Kuhns Gesundheit. Doch einmal an seinem Instrument angelangt, ist er wieder nur noch „der Mann am Klavier“, leichthändig swingend, hintergründig improvisierend, lässig kommentierend – so lassen sich die bewegenden Berichte über den Auftritt zusammenfassen: Er ist immer noch Deutschlands „Jazzpianist Nummer Eins“. Und die kleine Kasseler Bühne soll auch nur eine Verschnaufpause sein: Für November 2013 ist wieder Großes angesagt, bei den international renommierten Leverkusener Jazztagen…
III.
Voller Energie für die Musik war der junge Paul, am 12. März 1928 in Wiesbaden geboren, von frühester Jugend an. Er spielte sein Akkordeon schon als 8jähriger so gut, daß man ihn als Preisträger eines Nachwuchswettbewerbs 1936 zur Funkausstellung nach Berlin einlud: Big Business, denn dort wurde damals gerade das Fernsehen als Neuerung vorgestellt. Kuhn aber interessierte sich mehr für die Musik, die man damals nurmehr „hinter verschlossenen Türen“ hören durfte: Swing und Jazz aus Amerika. Besonders Glenn Miller hatte es ihm angetan. Der Zweite Weltkrieg verschlug ihn nach Frankreich; in Cherbourg war er, als die alliierte Invasion über den Ärmelkanal begann, und „das war nicht lustig“, wie er 2008 in einem Interview bekannte.
Doch die ersten Monate und Jahre nach Kriegsende im Frühjahr 1945 empfand Kuhn genau wie so viele seiner musikalischen Mitstreiter als Befreiung. Endlich konnte man nun loslegen und die zuvor trotz Verbot insgeheim schon kopierten Swingstücke und Balladen von Benny Goodman und Glenn Miller, den Gershwins und Cole Porter, und vieles mehr aus dem „American Songbook“, frei spielen und instrumental damit improviseren.
Wiesbaden war dafür kein schlechtes Pflaster, denn mit Swing kannten sich die Amerikaner aus. „That guy, he has it“, und schnell landete Kuhn beim US-amerikanischen Militärsender AFN im nahen Frankfurt. Dort gefielen seine Swing-Adaptionen bald so sehr, daß er beinahe täglich im Radio zu hören war.
Die Pianisten Art Tatum (1909-1956) und George Shearing (1919-2011) waren neben Glenn Millers Orchestermusik Paul Kuhns „Helden“ am Klavier. Ihr Spiel studierte er in jeder freien Minute mit jeder neuen Platte aus Amerika, die er ergattern konnte. Arrangieren bedeutete damals, neben musikalischem Verständnis drei Dinge parat zu haben – ein Blatt Papier, einen Stift, und gute Ohren. Mit Verve kopierte Kuhn, was er im Radio hörte, auf sein Papier, wandelte es um für die Erfordernisse beim AFN, und entwickelte daraus seine ersten eigenen Arrangements, für die er bald auch eigene Combos zusammenstellen konnte. Es waren diese „Gründerjahre“, in denen sich Kuhn nicht nur bei Jazzfreunden, sondern auch bei Orchesterkollegen rasch beliebt machte.
Als man Kuhn 1953 zum besten Jazzpianisten der Republik erkor, stellte er sein Talent längst nicht mehr nur als „Klavierspieler“, sondern auch als Komponist, Texter, Arrangeur und Bandleader unter Beweis: Einst war alles noch „im Eimer“ gewesen (die legendäre Weinmusikkneipe dieses Namens in der Wiesbadener Wagemannstraße, in der der blutjunge Kuhn auftrat, gibt es heute noch.) Nun aber drängte es das Talent aus dem „Eimer“ hinaus in die „Badewanne“, einem heute lebenso legendären Jazz-Club im damaligen „Femina-Palast“ in der Nürnberger Straße in Berlin (heute „Hotel Ellington“), wo sich auch die internationalen Größen von Louis Armstrong bis Ella Fitzgerald sehen ließen.
Kuhn musizierte dort und anderswo mit Freddie Brocksieper (1912-1990), dem genialen „Jazzer“, der soviel für die Verbreitung des Swing im Deutschland der ersten Nachkriegsjahre beigetragen hat und heute dafür viel zu selten gewürdigt wird. Er spielte auch mit dem dann viel zu früh verstorbenen Kurt Edelhagen (1920-1982) auf dessen Weg zum Bandleader. Helmut Zacharias (1920-2002), der swingende „Teufelsgeiger“, stand an seiner Seite. Und die musikalischen Freundschaften mit Hugo Strasser und Max Greger, sie wurden ebenfalls in jenen Tagen geschlossen, und hielten fürs Leben.
Die Auszeichnung 1953 war, anders als ihr Titel vermuten läßt, freilich kein Auftakt für Kuhn, seine musikalische Affinität zum Jazz gewinnbringend auszuleben zu können: Denn mit Jazz und Swing auch der Spitzenklasse war damals in Deutschland dauerhaft kein gutes Geld zu verdienen. Kuhn ließ sich auf den „deutschen Schlager“ ein (wie er später sagte, habe ihn sein erster Produzent dazu mit den sanften Worten ermutigt, „Herr Kuhn: entweder Sie singen das, oder Sie bekommen keinen Plattenvertrag“), und veröffentlichte 1954 den „Mann am Klavier“, eine Komposition von Horst-Heinz Henning (1920-1998). Die Aufnahme verkaufte sich bestens und beherrschte fortan Kuhns Image.
1955 traf Kuhn in New York auf Matt Dennis (1914-2002). Dennis, selbst Jazzpianist, galt schon damals als einer der größten Komponisten des “American Songbook”; so hatte er beispielsweise „Everything Happens To Me“ (1940) für Tommy Dorsey & Frank Sinatra komponiert, ebenso weitere Sinatra-Dorsey-Titel wie „Let’s Get Away From It All“, „Violets For Your Furs“ und „The Night We Called It A Day“ (alle 1941). 1946 war mit „Angel Eyes“ ein weiterer Song dazugekommen, der auf dem Weg zum Sinatra-Klassiker war.
Dennis bot Kuhn an, ihm bei einer beruflichen Übersiedlung in die USA zu helfen. Kuhn lehnte ab. Später soll sogar Count Basie, also der Jazzpianogott persönlich, nochmal bei Paul gefragt haben, ebenfalls ohne Erfolg. Bedenkt man Kuhns einzigartige Fähigkeiten am Klavier und als Arrangeur, so kann man dies aus der Rückschau nur bedauern – aber Kuhn selbst entschied damals anders. „Ich hab mich nicht getraut“, sagte er dazu 2008 in einem Fernsehinterview. Gefürchtet habe er sich vor dem Sprung ins Ungewisse, während in der Heimat dank des Mann-am-Klavier-Schlagers die Einnahmen sprudelten. Zumal auf längere Sicht eine kluge, bodenständige Entscheidung, der Furcht nachzugeben, zu spüren wo man hingehört.
The fundamental things apply.
IV.
Manche damaligen „Jazzfreunde“ nahmen ihm die Entscheidung übel. Kuhn konterte deren Einwürfe stets lässig mit „man muß ja auch Geld verdienen dürfen“: Er spiele und singe das, „was die Leute hören wollen“. Besondere Mühe, so bekannte Kuhn später, habe er sich bei den Gesangsaufnahmen für den „Mann am Klavier“ freilich nicht gegeben.
Das Wort „Unterhaltungsorchester“ bekam in Kritiken der Jazzpuristen, die sich mehr von Kuhns genialem Klavierspiel versprochen hatten, bald einen ähnlich abwertenden Unterton. Kuhn scherte sich (zu recht, und genau wie seine ähnlich despektierlichen Feuilletonismen ausgesetzten „Leidensgenossen“ Greger und Strasser) einen feuchten Kehricht darum. Vielmehr setzte er, so wie die anderen auch, unbeirrt auf solide Orchesterarbeit im Swing wie im Schlager – und wurde dafür belohnt: Ab 1968 leitete Kuhn das Orchester des „Sender Freies Berlin“ (SFB), und begleitete in dieser Funktion im folgenden Jahrzehnt musikalisch zahllose populäre deutsche Fernsehshows: Rudi Carell, Peter Frankenfeld, Harald Juhnke, und viele andere.
Dem Publikum gefiel es. Und Kuhn genoß es, wann immer möglich, seine Jazzvorlieben in winzigkleinen versteckten „Extras“ seiner Arrangements in die kommerziellen Showdarbietungen einfließen zu lassen. Auf das (wohl typisch deutsche) engstirnige „Entweder-oder“ der Jazzfans einserseits, der Schlagerfans andererseits mochte er sich dabei nie einlassen: Paul Kuhn bemühte sich, auch im Kommerziellen ein Garant für die Tatsache zu bleiben, daß man „Musik“ nicht entlang solch pseudo-puristischer Maximen trennen darf, solange nur genug echtes Können dahintersteckt.
Darin, ohne es auszusprechen, wußte er sich im übrigen einig mit einem seiner Idole, nämlich mit Frank Sinatra, der sein eigenes Tun 1965, längst Multimillionär geworden, einmal so beschrieb: „What I do is very simple. I sing, and I do records, and then I try to sell those records to earn myself a living.“ Sinatra warf das natürlich oft als augenzwinkernden “lässigen Spruch” in die Runde, konnte er sich doch in den 1960ern längst sicher sein, niemals mehr um Tantiemen fürchten zu müssen. Aber der „Berufsethos“, der hinter dieser Bemerkung stand, der war für Sinatra genauso selbstverständlich wie für Kuhn. Ewiger Ruhm mag schön sein, aber zunächst einmal gilt: Der Sänger singt, um damit sein Geld zu verdienen.
The fundamental things apply.
V.
Unvorstellbares geschah im Jahr 1980: Der Leiter des damals (neben Max Greger) bekanntesten und beliebtesten deutschen Fernsehorchesters erfährt zufällig aus der Zeitung(!) von seiner Kündigung und der Auflösung seines gesamten Orchesters. So erging es Paul Kuhn, als ihn der SFB von heute auf morgen samt seiner Big-Band in die Wüste schickte; auch sein Plattenvertrag wurde gekündigt. Ein beispielloses Vorgehen in der deutschen Showlandschaft, den späteren „Fall Juhnke“ eingeschlossen.
Für Paul Kuhn war es ein Schlag mit Folgen, wie er in einem Interview im November 2011 freimütig aber zurückhaltend bekannte: „Damals habe ich die Orientierung verloren, ich war ja mehr als ein Jahrzehnt mit dem SFB verheiratet gewesen.“
Kuhn zog fort aus Berlin und ließ sich in Köln nieder, fand in Ute Hellermann (der Leiterin der Vokalgruppe „Ute Mann Singers“, mit der er schon mehrfach gearbeitet hatte) eine neue Liebe und einen Ruhepol, aus dem er neues Selbstbewußtsein schöpfte. „Jazz Pops“ hieß bald sein neues Credo, jährliche Swingkonzerte „zwischen den Jahren“ (meist am 27. Dezember) in der Kölner Philharmonie. Da ging es im Kern immer um den Swing und seine Möglichkeiten. Also um grundlegende Dinge.
The fundamental things apply
VI.
Und so begegnete Paul Kuhn uns, Alfred Terschak und mir, in der Bar des Kölner „Hyatt“ an jenem Juniabend 1993 nach Sinatras Konzert auf der Domplatte. Er stand dort wie wir, reckte den Hals, um Sinatra am abgesperrten Tisch beim Abtrunk zuzuschauen. Aber wieviel „mehr“ als uns muß ihm diese Szenerie damals bedeutet haben:
Dort drüben saß Sinatra, dessen Stimme so oft auf den Platten zu hören gewesen war, deren Arrangements der Teenager in den 1940ern heimlich kopiert hatte, um vom „American Songbook“ für seinen eigenen Auftritte zu lernen.
Dort drüben saß Sinatra, dessen Aufnahmen besonders der 1950er und 1960er Jahre jeden Profimusiker entzücken mußten, und dessen stimmliches Naturtalent eigentlich schon immer das unausgesprochene non-plus-ultra war, wenn es um Stücke des „American Songbook“ ging.
Wir sprachen Paul Kuhn an und er gesellte sich für einige Minuten an unseren Tisch. Ich erinnere mich an einen ganz unpretentiösen, bescheidenen Mann, der einfach genauso begeistert vom vorangegangenen Sinatra-Konzert auf der Domplatte war wie wir, mitgerissen vom Sound einer Legende, die auch auf ihre alten Tage meistens noch so klang wie „The Voice“. Ich erinnere mich, daß er sich gefreut hat, als wir uns bei ihm für seine eigenen vielen musikalischen Beiträge zum Swing bedankten. Autogramme gab er gerne – natürlich hatten wir nichts passendes dabei, so wurde es eine Signatur auf einem schnöden Hyatt-Notizzettel: „Ihr Paul Kuhn“.
The fundamental things apply.
VII.
Zwölf Jahre später, am 14.12.2005, eine weitere persönliche Begegnung. Inzwischen gibt es unsere Deutsche Sinatra Society, und Paul Kuhn ist bereits unser Ehrenmitglied – am heutigen Abend im Leipziger Gewandhaus sollen zwei weitere dazukommen, Max Greger und Hugo Strasser. Wir vom Vorstand der DSS haben uns mit den Künstlern für die Pause hinter der Bühne verabredet.
Kuhn kommt ein paar Minuten später dazu, als wir uns schon mit Greger und Strasser unterhalten. Lässige Vorstellung „Hallo, ich bin der Paul Kuhn“. „Gestatten, Kuhn.“ So einfach begegnet man Deutschlands Jazzpianist Nr. 1. Die Bescheidenheit in Person. Sehen könne er nicht mehr so gut, sagt er (und man sieht es), und studiert doch unser Magazin.
An unsere Begegnung in Köln 1993 erinnrt er sich auch. Später wird er das auch im Fernsehen sagen: Einen deutschen Sinatra-Klub gäbe es, beruhend auf Köln 1993, wo man vergeblich auf ein Autogramm Sinatras habe warten müssen.
Ein paar Minuten nach dieser Begegnung, im zweiten Teil des Konzerts wird er seine mitreißend swingende Version von „Strangers In The Night“ spielen und singen, ein Glanzstück des Abends. Ganz anders als Sinatra, und doch genau „Sinatra-spirit“: Ein absolut faszinierendes Stück Musik. Später am Abend notiere ich in mein Reisetagebuch: „Da haben sich verwandte Seelen gefunden. Niemand sonst dürfte „Strangers“ swingen, außer Kuhn.“ Wer könnte es auch sonst auf diesem Niveau wagen, Sinatras Number-One-Kitschballade (Sinatra selbst haßte den Song, wie er zahllose Male auch auf der Bühne verkündete) so konsequent zu verswingen, daß man am Ende meint, „so also war das alles eigentlich zu verstehen“. Doo-bee-doo-bee-doo für fortgeschrittene Swingsüchtige.
The fundamental things apply.
VIII.
Guck mal an, ausgerechnet im „Ostfunk“, hier konkret in der Sendung „Thadeusz“ im RBB von 2008, wird nachgefragt – was 2008 vielleicht noch manchen (West-)Bundesbürger überrascht, ist inzwischen kein Thema mehr, denn Jörg Thadeusz hat sich längst einen Namen gemacht mit kompromisslosen Fragen an seine Gäste.
Frage an Stargast Paul Kuhn im November 2008:
„Welche Jazzstandards könnn Sie auch betrunken fehlerfrei spielen?“
Antwort Paul Kuhn:
„So ziemlich alle.“
Nachfrage:
„Wirklich, der Paul hat einen hängen, das hört man nicht?“
Antwort Paul Kuhn:
„Nee.“
Wunderbarer Dialog, der sich so ähnlich über die ganzen 30 Minuten der Sendung ausbreitet. Kuhn steht ein Klavier zur Verfügung, auf dem er immer wieder Lieder und eigene Kompositionen anstimmt. Schon als Eröffnung der ganzen Show spielt Kuhn „As Time Goes By“.
The fundamental things apply.
IX.
Manchmal bekommt auch der routinierteste Profi noch ein wenig Herzflattern. So geschehen mit Paul Kuhn vor genau zwei Jahren, im November 2011, im legendären „Studio A“ des Capitol Tower in Hollywood.
Kuhn selbst, hinterher darüber befragt, ob er nervös gewesen sei, sagte:
„Ich war sogar ziemlich aufgeregt, obwohl ich nicht dachte, dass ich es sein würde. An dem Mikrofon haben zwar schon Nat King Cole und Frank Sinatra gesungen, aber das ist doch egal, oder? Dann steht das Mikrofon da, und es ist eben nicht egal! Ich habe meine Stimme noch nie so persönlich gehört. Da hört man jeden Zahn.“
Ich glaube, das hätte Sinatra gefallen als Lob der Mikrophonqualität, „you’ll hear each tooth separately“. Und an Paul Kuhns Musik hätte er auch Spaß gehabt.
Für Kuhn selbst aber war das „The Ultimate Event“, etwas, was nur einmal passiert, nämlich die Möglichkeit zu bekommen, in genau jenem Studio Musikaufnahmen zu machen, in dem einst Frank Sinatra einen Erfolg nach dem anderen zu Mikrophon brachte. Toningenieur Al Schmitt ist seit Jahrzehnten dabei, hat noch Sinatra selbst im Studio erlebt und aufgenommen, und die Aufnahmen für Henri Mancinis „Breakfast at Tiffany“ betreut – so jemand kommt nur, wenn was wirklich wichtiges ansteht. So wie bei Paul Kuhn im November 2011, der sich am Klavier mit Drummer Jeff Hamilton und Bassist John Clayton zusammentat, beide ebenfalls „Riesen“ in der Branche und Sinatra-erfahren. 14 Lieder wuerden aufgenommen; den Schluß des Albums bildet „As Time Goes By.“
The fundamental things apply.
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X.
Viele ernsthafte Filme hat Paul Kuhn nicht gedreht, aber hier könnte man sagen: wenn schon, denn schon: „Schenk Mir Die Herz“ (2012) ist ein hinreißend charmanter Streifen, was vor allem an Paul Kuhn in der Hauptrolle des alten sterbenden Jazzsängers liegt, der sich doch am Ende als Gewinner fühlen darf. Zuvor hat er dem Film auch mit einigen neukomponierten Songs gutgetan. Nun am Schluß darf die Kamera mitten in sein zerfurchtes Gesicht, in die Spuren eines intensiv gelebten Lebens hineinzoomen. Es sind großartige, bewegende Momente.
XI.
Am Ende war es nicht nur für seine musikalischen Begleiter mühsam mitanzusehen, wie Kuhn sich quälte. Um seine Gesundheit stand es schon seit längerem nicht mehr zum Besten, es hatte eine Herzoperation gegeben, von Gürtelrose war zu lesen, dann wieder vom Optimismus des Erkrankten, der sich in swingenden Konzerterfolgen niederschlug. Seinen 85. Geburtstag im März 2013 feierte Paul Kuhn im Rahmen einer großangelegten Konzerttournee, doch nur wenige Wochen später stimmten die Nachrichten über seinen Gesundheitszustand wieder bedenklich.
Noch einmal rappelte Kuhn sich auf. Beim Frühjahrsjazzfestival seines jahrzehntelangen Schlagzeugers Willy Ketzer im Juni 2013 in Rösrath bei Köln saß er im Publikum und ließ sich dann spontan auf die Bühne führen, um ein paar fulminante Soli am Flügel zu improvisieren. Am 15. August dann wieder schlechte Nachrichten: Im österreichischen Bad Schallerbach mußte Kuhn ein Konzert nach der ersten Hälfte abbrechen, von Notarzt und ernstem Zustand war zu lesen. Genau vierzehn Tage später, am 29. August steht Paul Kuhn dann in Kassel auf der Bühne des „Theaterstübchens“ und bekommt noch einmal den Applaus seines Publikums zu spüren, das immer noch hören will, was der Mann am Klavier zu spielen hat.
Er wolle solange Klavier spielen, bis „der liebe Gott mir auf die Finger klopft und sagt, nun ist es genug“, hat Kuhn einmal gesagt. In der Nacht zum 23. September 2013 hat es dann geklopft. In einer Kurklinik im hessischen Bad Wildungen bei Kassel ist Paul Kuhn gestorben. Wir werden ihn vermissen, den bescheidenen, liebenswerten, lebensgegerbten Swingfinger: Er war bezaubernd. Dankeschön.
Im März 2013 hatte Kuhn eine schöne „Swing 85!“-Geburtstagsbox auf den Markt gebracht. Sie enthält zwei Alben, einmal die „LA-Sessions“ vom November 2011, ein zweites mit seinen bekanntesten Swingerfolgen, bei denen ihn zahlreiche Gaststars begleiten, und eine DVD mit einem mitreißenden Konzert vom Burghausener Jazzfestival 2008, dem noch die schöne Dokumentation „Paul Kuhn – eine deutsche Geschichte“ angehängt ist. Eine wunderbare Möglichkeit, sich ein wenig darüber hinwegzutrösten, daß die Geschichte unseres Ehrenmitglieds nun zu Ende gegangen ist.
Auf der Box ist auch das Stück „My World Of Music“ zu hören, eine der schönsten Eigenkompositionen Paul Kuhns, dessen Text nun sein Vermächtnis ist:
„My world is a world of music,
it’s a world of swing and romance.
My world is full of melodies –
and all my troubles haven’t got a chance….“
Wer freilich glaubt, es handle sich um eine melancholische Ballade, hat sich geschnitten: Es ist ein rassiger Swinger. Besser kann man nicht beschreiben, was Paul Kuhn für die Musik bedeutet hat. The fundamental things apply, as time goes by.
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