Ganz am Ende wäre sie fast noch ins Straucheln geraten. Es geht schon auf Mitternacht zu, als Liza Minnelli an diesem dunklen, naßkalten Märzabend die Düsseldorfer Tonhalle durch einen rückwärtigen Ausgang verläßt, wo an der Rheinuferstraße ihre Limousine wartet.
Ausgerechnet an dieser Stelle ist eine kleine Kanalbaustelle, das Pflaster ist uneben, und nicht weggeräumte Warnhütchen stehen herum. Ihren kleinen Stolperer aber fängt ihr Europamanager auf, bei dem sie sich untergehakt hat. Eine handvoll unentwegter Fans bildet ein kleines Spalier auf den paar Metern zum Auto. Es wird geklatscht. „Thank you, Ladies and Gentlemen, you have been a most wonderful audience!“ hört man Liza mit fester Stimme antworten. Dann schlagen schon die Wagentüren zu, und wenig später sind die Rücklichter im nächtlichen Verkehr verschwunden.
So unspektakulär kann ein Weltklasse-Abend zu Ende gehen…
Das Etikett der „lebenden Legende“ mag abgedroschen klingen, doch Liza May Minnelli ist nichts anderes, eine absolute Legende des Showbusiness. Dort wurde sie vor 60 Jahren quasi hineingeboren, die Tochter der unvergessenen Judy Garland und des Regisseurs Vincente Minnelli. Befreundete Stars gingen zuhause ein und aus, auch Frank Sinatra, der Liza später oft als „my third daughter“ bezeichnete. Für Liza ist er bis heute „Uncle Frank“ geblieben. „Zuhause“ war im übrigen für die kleine Liza bald ebensosehr die Welt der Musikbühnen und Filmstudios, wo ihre Eltern arbeiteten. Von der Pike auf erlernte sie das Metier selbst, studierte Theaterwissenschaften und Musik in New York City, wo ihr schließlich Anfang der Sechziger Jahre auch der Durchbruch am Broadway gelang, als „Flora, The Red Menace“.
Seither hat Liza Minnelli alles gewonnen, was man als Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin gewinnen kann: Gleich dreimal den Tony Award, den Broadway-Bühnen-Oscar, dazu den Emmy Award für ihr Fernsehspecial „Liza With A Z“ (das in diesen Tagen auf DVD neu aufgelegt wird), einen Grammy für ihr Lebenswerk – und natürlich den Oscar als beste Hauptdarstellerin in „Cabaret“ (1972), für ihre Verkörperung der ‚Sally Bowles‘, die wie keine zweite Rolle für immer mit ihr identifiziert werden wird. Ihre gefeierten Konzertserien in der New Yorker Carnegie Hall oder der Radio City Music Hall, im Pariser Olympia und vielen anderen Musentempeln stellten zum Teil bis heute unerreichte Rekorde auf. Zumal in den USA gehören zum Mythos der Showlegende natürlich auch vermeintliche Rückschläge, angebliche Skandale, kurz: die ganze Bandbreite des „gossip“ – und daran herrschte bei Liza Minnelli nicht zuletzt wegen ihrer vier stürmischen Ehen ebenfalls kein Mangel. In jüngerer Zeit machten vor allem ihre gesundheitlichen Probleme des öfteren Schlagzeilen, so ihre offen eingestandene Alkoholsucht, Hüft- und Knieoperationen und zuletzt vor ein paar Jahren eine schwere Enzephalitis, die ihr zeitweise die Prognose einbrachte, nie wieder singen und auftreten zu können. Ihre Fans haben mit ihr gelitten, und sie wurden im Gegensatz zu den Schwarzmalern auch nicht enttäuscht: Denn auch dieser essentiell wichtige Bestandteil jeder Legende traf und trifft auf Liza Minnelli zu wie auf kaum einen anderen Künstler: They always come back.
Trotzdem mag sich bei manchem, der ihre einzigartige Karriere über die Jahre hinweg verfolgt hat, zunächst ein wenig Beklommenheit eingestellt haben, als Minnelli vor einigen Monaten ihre große Deutschland- und Europatournee bekanntgeben ließ. Denn bei ihren Auftritten in Köln und München Ende der Neunziger Jahre hatte sie trotz ihrer ungebrochenen Professionalität mitunter zwiespältige Eindrücke bei ihren Fans hinterlassen. Das Feuer, das sie noch 1989 bei ihrer Tournee mit Sinatra und Sammy Davis jr. versprühte, schien teilweise zu verglimmen, die physischen Möglichkeiten waren deutlich beschränkt. Die durchweg hohen Eintrittspreise sind zudem wenig geeignet, solcherlei Fragezeichen zu beseitigen. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, geriet ihre jüngste Tour dann zu einem neuen strahlenden Mosaikstein der Legende: Denn um eines gleich vorwegzunehmen, Liza Minnelli ist heute besser denn je. Schon die ersten Pressestimmen und Konzertberichte ließen das vermuten, ihre umjubelten Auftritte in der Münchner Philharmonie und im Berliner Friedrichstadtpalast räumten dann alle restlichen Zweifel beiseite: Liza’s back again. Und nun also, am 3. März 2006, auch in Düsseldorf.
Stunden vor Konzertbeginn ist dort an der Tonhalle noch alles ruhig. Zeit also, um wenigstens kurz die einzigartige Architektur des 1926 von Wilhelm Kreis errichteten Baus auf sich wirken zu lassen, der bis 1978 Rheinhalle hieß (die andernorts gelegene alte Tonhalle war 1942 den Bomben zum Opfer gefallen) und von einer neoklassizistisch geprägten großen Kuppel geprägt ist, unter der sich der 2000 Zuschauer fassende Große Konzertsaal befindet. Der Innenraum und die Wandelgänge mit ihren in Klinker und Tuffstein gehaltenen Arkaden hingegen gelten als wichtiges Denkmal expressionistischer Architektur – durchaus ein würdiger Rahmen also, um einer Legende zu begegnen.
Am Vortag waren Liza und ihre Entourage aus Hamburg kommend in der Rheinmetropole eingetroffen und hatten eine Ruhepause eingelegt. Überhaupt zeigt ihr Tourneeplan schon ein Geheimnis ihres erneuten Erfolges – nämlich Mäßigung. Keine lückenlose Reihe von One-Nighters, sondern genug Pausen dazwischen, um die Akkus wieder aufzuladen. Auch im kleinen, also innerhalb des Konzertprogramms selbst, findet sich diese Leitlinie in diesen Tagen wieder: Große Shownummern, die Liza alles physisch mögliche abverlangen, wechseln mit Balladen und Musiktheaterstücken ab, die ihr genügend Luft verschaffen und ihre enorme Vielseitigkeit umso deutlicher unterstreichen, auch weil zum Teil in neuen Arrangements vorgetragen. Dazu werden nicht die großen Hallen, sondern kleinere, intimere Bühnen bespielt, auf denen der sprichwörtliche Funke leichter überspringen kann. Denn immer noch strahlt Liza Minnelli auf der Bühne eine Anziehungskraft aus, die ihresgleichen sucht, geboren aus jener Mischung vollendeter Professionalität und emotionaler Direktheit, die man nur bei den wirklich Großen finden kann.
Die Spannung steigt, nicht nur in Erwartung des Konzerts, sondern bei uns fünfen (Jupp und seine Josie, Alfred, Thilo und mir) natürlich auch wegen der schon im Vorfeld grundsätzlich verabredeten persönlichen Begegnung. Die Urkunde mit einem Text aus Fürth, einem Layout aus Regensburg und am Nachmittag eingeflogen aus Wien, steckt jetzt im Rahmen aus Gelsenkirchen, ein paar Blumen sind auch noch rasch besorgt. Ein kurzes Gespräch mit Lizas Europamanager ergibt: Nach dem Konzert soll es sein.
Gegen 19 Uhr wird die Wandelhalle geöffnet, und langsam findet sich ein buntes Publikum zusammen, in dem alle Altersklassen und alle Outfits vertreten sind. Auch einige von Lizas deutschen persönlichen Freunden sind darunter. Noch rasch ein Gruppenphoto vor einem der Konzertplakate gemacht, und auf geht’s in den Großen Saal unter der Kuppel. Am rechten Bühnenrand können wir kurz Florian begrüßen, der sich auf seinen Einsatz vorbereitet. Die überraschend kleine Bühne selbst ist von den vorderen Sitzen, wo die meisten von uns plaziert sind, keine zwei Meter entfernt… spätestens jetzt spüren wohl alle die Spannung auf das, was da kommt.
Das geht dann schnell und schnörkellos: Kurz nach 20 Uhr betreten die zwölf Musiker des Begleitorchesters die Bühne, angeführt von ihrem Schlagzeuger und Bandleader Bill LaVorgna. Ein paar Instrumentaltakte „New York New York“, Licht aus, Spot an, und schon steht Liza Minnelli mit ausgebreiteten Armen vor uns, badet mit leuchtenden Augen im Begrüßungsapplaus. Fülliger ist sie geworden, als man sie in Erinnerung hatte. Doch das Feuer ist da, das spürt man schon in den ersten Minuten.
Torrie Zitos großartiges Medley-Arrangement aus Johnny Nashs I CAN SEE CLEARLY NOW und I CAN SEE IT von Tom Jones gehört seit vielen Jahren zu Lizas Eröffnungsnummern, und auch an diesem Abend verläßt sie sich auf solch Altbewährtes, um sich warmzusingen. Bald gelingen auch die ersten „trademark notes“ mit ihrem typischen Vibrato, und spätestens beim folgenden Medley muß jedem in der Halle klar sein, daß ein Konzert der Sonderklasse bevorsteht. Vor Jahren hat Walt Levinsky diese Kombination aus Kurt Weills und Alan Lerners HERE I’LL STAY von 1947 und LOVE IS HERE TO STAY, dem letzten Song der Gebrüder Gershwin, arrangiert, und wenn man Liza jetzt dabei zuhört, fühlt man sich leicht in vergangene triumphale Konzertjahre zurückversetzt. Ein fulminantes Finale mischt sich mit den ersten Bravo-Rufen – es sollen nicht die letzten des Abends bleiben.
Obwohl manche vielleicht finden, daß dadurch die „pure Konzertatmosphäre“ ein wenig zerstört werden kann: Eigentlich wäre es eine gute Sache, wenn Liza auf einer Leinwand im Hintergrund auch für die hinteren Ränge quasi in Großaufnahme zu sehen wäre. Denn so bleibt es den vorderen Reihen vorbehalten zu erleben, wie sie während des ganzen Konzertes förmlich aufgeht in ihren Liedern und dabei vielfach und erkennbar an die äußersten Grenzen dessen vorstößt, was sie heute körperlich noch leisten kann, ohne dabei den fatalen Eindruck zu erwecken, ihre Performance käme „mit letzter Kraft“: Es ist schlichtweg elektrisierend, wie kompromißlos ihr Einsatz ist. Das verschlägt einem glatt die Sprache und ist mindestens so sehr ein „Gänsehautfaktor“ wie das Musikprogramm selbst, in dem nun nach den beiden großen Showstücken eine Ballade ansteht. Liza läßt sich dabei genug Zeit, um sich auf die neue Stimmung einzustellen. Auf dem Piano steht eine dunkelblaue Tasse bereit, aus der sie zwischen den Liedern immer wieder einen Schluck nimmt.
COME IN FROM THE RAIN, die wunderschöne Ballade von Melissa Manchester und Carol Bayer Sager, präsentiert sich erstmals wieder nach langer Zeit, in einem neuen Arrangement, das LaVorgna erst im letzten Jahr geschrieben hat, und wie schon bei den Konzerten zuvor wird daraus der erste große Höhepunkt des Abends. Minnellis interpretatorische Ausdruckskraft bei langsamen Nummern ist deutlich stärker geworden in den letzten Jahren, vielleicht sogar stärker als jemals zuvor. Kurz bevor sie die ersten Verse singt, kann man in ihrem Gesicht beobachten, wie sie eintaucht in die Szenerie des folgenden Songs. Ein Lächeln streicht über ihr Gesicht, ihr Blick geht in die Ferne. Well, hello there, good old friend of mine / You’ve been reaching for yourself for such a long time. Man kann daran denken, daß auch Liza in den letzten Jahren auf Selbstsuche gewesen ist. Man kann es aber auch lassen, zuviel hineinzuinterpretieren, und sich einfach dem emotionalen Zauber des Stücks überlassen, das in bunten Farben leuchtet. Wohlige Melancholie. Und die erste „standing ovation“ des Abends.
Die Brücke zwischen Chanson und Broadway gelingt mit THE SINGER, dem von Walter Marks komponierten Titellied ihres gleichnamigen Albums von 1973, das überhaupt bei dieser Tour zum ersten Mal regelmäßig in ihrem Repertoire zu finden ist, wiederum mit einem neuen Arrangement von Bill LaVorgna. Die Ausgelassenheit, mit der Liza durch die Refrains wirbelt, erinnert manchmal ein wenig an die Piaf, während das ganze Stück, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt ihrer Karriere, natürlich auch etwas autobiographisches an sich hat, gerade wenn man sie heute beobachtet: Is she the singer or the song?
Apropos Broadway: Warum Liza Minnelli dort die unumstrittene Königin geworden ist, bekommt man mit dem nächsten Stück vorgeführt. SO WHAT schrieben Fred Ebb und John Kander für die Bühnenfassung von „Cabaret“; in der Verfilmung aber fehlte das Lied, mit dem die große Lotte Lenya glänzte, an die Liza jetzt zu Beginn ihrer Version ihr Publikum erinnert. Im Gesprächston beginnt sie die Geschichte zu erzählen, um die sich der Text rankt, und ist dann auf einmal schon mittendrin in dem langen Monolog der Berliner Zimmerwirtin, die sich auch mit 50 statt 100 Mark Miete zufrieden gibt. Liza singt, spricht, spielt die Szene gleichsam als Einpersonenstück, nuanciert Ironie, Komik und Sarkasmus der Zeilen mit ihrer schauspielerischen Kraft in allen Facetten, wobei sie sich ganz auf die clevere Orchesterbegleitung verlassen kann, und natürlich auf ihre unvergleichliche Gestik und Mimik. Das ist Musiktheater par excellence, und man kann gar nicht anders als dabei an ihren Lippen zu kleben: Sonderklasse. Entsprechend stürmisch ist der Applaus.
Charles Aznavour, der große Chansonnier, der vor einigen Wochen gerade auf Abschiedstournee war, gehört seit Jahrzehnten zu Lizas engeren Freunden, dem sie in ihrer Conférence einige entsprechende Worte widmet. Und ebenfalls schon viele Jahre lang glänzt sie auf der Bühne mit Aznavours SAILOR BOYS, auch an diesem Abend ist es wieder so. Liza hat sich jetzt längst ganz freigesungen, und das Ergebnis kann es mühelos mit ihren Darbietungen der Achtziger Jahre aufnehmen. Das Finale ist unwiderstehlich, die Kraft, mit der sie jetzt ihre Töne heraussingt, unglaublich. Ovationen in der Halle, während die ersten Blumen auf die Bühne gereicht werden.
Den Abschluß des ersten Teils bildet WHAT DID I HAVE (THAT I DON’T HAVE), der große musikalische Monolog der „Daisy“ aus Burton Lanes und Alan Lerners Musical „On A Clear Day“, dramaturgisch perfekt arrangiert von Torrie Zito. Da feiert die Broadway-Performerin gleich noch einen Triumph. Um sich dann, nach einer guten Dreiviertelstunde, eine Pause zu können. In unserem Pausengespräch sind wir – einige von uns schon vorher Fans, andere jetzt erstmals richtig angesteckt – uns einig: Weltklasse. But The Best Is Yet To Come…
Zum zweiten Akt kommt Liza erwartungsgemäß in neuem Kostüm auf die Bühne. Bei ihrem Auftritt in Paris vor einigen Tagen hat sie einen größeren Programmteil auf Französisch bestritten; heute ist davon LE TEMPS (THERE IS A TIME) im Programm geblieben, ein weiteres Chanson von Charles Asznavour. Gefolgt wird das Ganze dann von HERE’S TO THE BAND, dem 1983 für Frank Sinatra geschriebenen swingenden Tribut an alle Bühnenmusiker und Orchestermitglieder, den nun auch Liza, mit etwas verändertem Text, in ihrem Repetoire hat. „Here’s To My Band“ ruft sie emphatisch zu den lateinamerikanischen Rhythmen des Stücks und lauscht dann mitswingend den ausgedehnten Soli ihres Orchesters, das sich dafür den mehr als verdienten Applaus abholt.
Als Minnelli dann ihren Bandleader BILL LAVORGNA vorstellt, wird man spätestens daran erinnert, daß heute eigentlich gleich zwei Legenden auf der Bühne der Tonhalle stehen: Denn auch den verschmitzt dreinschauenden, weißhaarigen, bärtigen Musiker am Schlagzeug wird man so nennen können. Und das nicht nur, weil er vor über vier Jahrzehnten Judy Garlands legendären Carnegie-Hall-Auftritt leitete und nun inzwischen schon seit fast 30 Jahren für Liza arbeitet – an beides erinnert sie kurz, bevor sie ihn „a part of the family“ nennt und ihm um den Hals fällt. Mit Sinatra hat LaVorgna gearbeitet (wie übrigens auch eine ganze Reihe von Lizas anderen Musikern) und mit zahlreichen anderen Künstlern ebenfalls (unter anderem länger für Paul Desmond), außer als Begleitmusiker hat er auch eigene Alben herausgebracht und damit einen Grammy gewonnen. So jemand steckt natürlich bis obenhin voller Geschichten, denen man, wie uns Florian berichtet hat, stundenlang zuhören könnte.
Seine Frau begleitet ihn auf seiner Tourneereise und sitzt auch in Düsseldorf in der ersten Reihe. So kann sie erleben, wie der Altmeister seinen Teil dazu beiträgt, daß Liza ihr Publikum einmal mehr erobert.
Denn jetzt widmet sich Liza jenem Song von Irving Berlin, mit dem 1910/11 nicht nur die Weltkarriere dieses begnadeten Komponisten begann, sondern in dem auch die ganze für die amerikanische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts so entscheidende Tradition des Vaudeville und ihrer großen Interpreten einige ihrer symbolischen Wurzeln hatte: ALEXANDER’S RAGTIME BAND, anders als etwa auf dem Carnegie-Hall-Album jetzt in einem rassigen, fulminanten Swing-Chart von Marvin Hamlish, gerät zum ultimativen mitreißenden Triumph dieses an Höhepunkten sowieso schon nicht armen Abends. Einen „Feger“ könnte man es nennen, und streckenweise wirkt es geradezu so, als sänge Liza sich dabei ein wenig in Trance. Und noch ein Refrain. Und das Riesenfinale. Niemanden hält es mehr auf den Sitzen. Die Halle kocht. Bravos und Blumen.
Liza hat mehr als alles gegeben und ist sichtlich erschöpft für einige Minuten. In denen man aber auch sehen kann, wie sie die Ovationen in sich aufsaugt. Sie lebt nicht nur für, sondern auch von ihrem Publikum.Irgendwann dazwischen gibt es aber auch eine fast unbeachtet bleibende Szene, die genausoviel über Minnelli erzählt: Jemand überreicht einen Strauß heller violetter Rosen. Liza betrachtet ihn kurz und geht dann an den rechten Bühnenrand, um ihn Florian und Amy zu überreichen, zusammen mit einer kurzen, festen Umarmung. Das macht nur jemand, der weiß, daß jeder Erfolg auch ein Erfolg des ganzen Teams ist. Der ehrliche Charme dieser Geste ist rührend und gehört zu den vielen unvergeßlichen Momenten des Abends.
Nun muß Liza sich ein Verschnaufpäuschen gönnen – das aber clever inszeniert ist (wenn auch vielleicht von den hinteren Rängen aus nicht so gut sichtbar). Neben dem Piano steht jetzt ein hoher „Regiestuhl“ bereit, auf dem Liza Platz nimmt, während die folgende Nummer zunächst ganz ihrem jungen Pianisten Johnny Rodgers gehört, der mit YOU CAN LEAVE YOUR HAT ON ein wenig Joe Cocker in die Tonhalle trägt. Liza sitzt dabei auf ihrem Thron und geht recht enthusiastisch mit, ein schönes Bild. Und dann, als das Lied eigentlich fertig ist, greift sie kurz hinter das Piano und zaubert einen Filzhut hervor: Cue, das Orchester greift den Song wieder auf, und Liza tanzt dazu eine gute Minute lang über die Bühne. Natürlich ist es keine große Choreographie mehr wie in vergangenen Tagen. Aber daß sie überhaupt noch tanzen kann, ist schon ein kleines Wunder – nach ihrer schweren Erkrankung mußte sie es, wie sie selbst in einigen neueren Interviews bekannte, erst wieder lernen. Daß sie es trotzdem auch auf der Bühne wieder tut, zeigt auch den unbändigen Willen, von dem diese Ausnahmekünstlerin immer noch lebt. Dementsprechend warm fällt der Applaus aus.
Der letzte Block gehört dann ganz der Musik von John Kander und dem kürzlich verstorbenen Fred Ebb, jenem Komponistenpaar, das wie kein anderes Liza Minnellis musikalisches Repertoire geprägt hat, beginnend mit ihrem Durchbruch am Broadway mit „Flora“, bis hin zu ihrer großen Bühnenshow von 2002. Den Auftakt bildet ein Lied aus dem Musical „Chicago“: MY OWN BEST FRIEND wird von Liza, der Broadwaykönigin, ähnlich mitreißend singspielend vorgetragen wie zuvor „So What“, und wieder ist es vor allem die unglaubliche Emotion, mit der sie in den Song und seine Szenerie hineintaucht, die einen erschauern läßt. So sehr geht sie darin auf, daß ihr zwischendurch echte Tränen ins Gesicht schießen und sie einige zusätzliche Sekunden braucht, um auf wieder auf die trotzige Ich-beiß-mich-durch-Stimmung der letzten Textzeilen umzuschalten. Und man fragt sich nocheinmal: Is she the singer, or is she the song?
Jeder Interpret hat seine „signature songs“, da macht natürlich auch Minnelli keine Ausnahme, und natürlich kann es kaum ein Konzert geben, an dem nicht CABARET gesungen wird. Das Stück ist um die Welt gegangen und tut das auch heute noch, einige wenige Orchestertakte genügen, um bei jedem Publikum Applaus hervorzurufen, und das brilliante Arrangement von Ralph Burns hat auch nach tausenden von Darbietungen kaum etwas von seiner Ausstrahlungskraft eingebüßt. Das gilt erst recht für seinen Chart zu THEME FROM NEW YORK NEW YORK, jener Hymne an die Stadt, die niemals schläft, die sich Liza zu Eigen gemacht hat wie sonst nur noch Frank Sinatra. Es sind Lieder mit Ovationsgarantie – und doch waren es gerade diese Nummern, bei denen man in den Neunziger Jahren manchmal Zweifel verspürte, ob Liza nicht in ihren Programmen darauf verzichten sollte. Am heutigen Abend aber ist nichts davon zu spüren, auch wenn die anspruchsvollen Noten, ohne die beide Stücke nicht funktionieren, sicher an ihre Kraftreserven gehen. Bei „Cabaret“ verlängert sie geschickt manche der halb gesprochenen Textpassagen (z.B. nach „I remember how she turned to me to say“) und spielt dabei natürlich auch ein wenig mit ihrem Publikum, das die Zeilen sowieso auswendig kann. Und „New York“ gerät dann zu einem letzten Augenblick für die Ewigkeit. Ich habe es von ihr niemals besser gehört als an diesem Abend.
Inzwischen zum Standard geworden ist auch die intime, persönliche Schlußnummer, mit der Minnelli ihre Auftritte beendet. Die Wimpern sind abgelegt, die Schminke aus dem Gesicht gewischt, der nicht enden wollende Applaus nach „New York“ verklungen, wenn die Musiker ihre Instrumente beiseite legen und Liza zuhören, wie sie a-cappella I’LL BE SEEING YOU vorträgt, den alten Evergreen von 1938 aus der Feder von Sammy Fain und Irving Kahal, die melancholische, gefühlvolle Liebeserklärung an jemanden, der so fern ist und doch allgegenwärtig. Und irgendwie ist es so, als verschmölzen in diesen Minuten all die Momente und Emotionen des Abends, all die Bilder von Liza einst und jetzt und auch solche von ihrer Mutter, all die Träume, von denen ihre Lieder erzählen und die sich mit ihren Liedern verbinden. Es ist der perfekte Schlußpunkt, weil er die Melancholie des Abschieds mit der Zuversicht aufs Wiedersehen verbindet. Das Publikum applaudiert nochmals stürmisch, und schon lange applaudiert es nicht mehr der Legende, sondern einem in jeder Hinsicht großartigen Auftritt. Dann ist die Show vorbei, und langsam leert sich die Halle. Liza Minnelli hat die Bühne zuvor am Arm von Bill LaVorgna verlassen. The song is ended, but the melody lingers on.
Etwas früher im zweiten Teil des Konzerts waren spontan einige Leute im Publikum aufgestanden, um „Happy Birthday“ zu intonieren, in das dann die ganze Halle mit einfiel. Sechzig Jahre alt würde Liza Minnelli neun Tage später werden. In einer ihrer Conferencen hatte sie damit zuvor etwas kokettiert, augenzwinkernd auf ihre fülliger gewordene Oberweite verwiesen, und daß sie leichter außer Atem geriete als früher. Um dann aber gleich eine bissige Bemerkung über einen Zeitungskolumnisten nachzuschieben, der kürzlich behauptet hatte, ihre Stimme sei nicht mehr echt:
„I’ll show you that’s wrong“ sagte sie und warf a-cappella zwei jener Noten ein, wie nur Minnelli sie singen kann.
Sie gelangen perfekt.
Der Sicherheitskordon um Liza ist so eng, wie man es bei einem Star ihres Kalibers erwarten darf. Am linken Bühnenrand versammeln sich spontan einige Dutzend Fans, viele in der vergeblichen Hoffnung, hinter die Bühne vorgelassen zu werden, und es gibt einige enttäuschte Gesichter. Aber Liza möchte es so, und spätestens, als wir den Trubel backstage ein wenig mitbekommen, läßt sich auch verstehen, warum – mehrere Dutzend Leute schwirren da nämlich sowieso bereits herum, zeitweise wird es richtig eng. „Ruhe“ sieht anders aus. Umso mehr freuen wir uns, daß Liza zuvor versprochen hat, uns kurz zu empfangen. Auf dem Gang vor ihrer Garderobe müssen wir zunächst ein wenig warten. Bill LaVorgna und einige andere Musiker sind zu sehen, und natürlich Leute aus Minnellis Team und Management. Ein Haufen ungeduldiger Journalisten wird schließlich zu einem kurzen Pressetermin in einen Raum am Ende des Ganges vorgelassen, und kurze Zeit später erscheint Liza, untergehakt bei ihrem Manager, und verschwindet ebenfalls in diesem Zimmer. Man hört Applaus und zwischendrin auch ihr unverwechselbares, herzhaftes raues Lachen. Nach ein paar Minuten leert sich der Raum wieder.
Liza trägt jetzt einen dunklen Blouson, darunter ein Sweatshirt, und sie geht langsam. Klein wirkt sie, fast ein wenig zerbrechlich. Mit einem strahlenden Lächeln kommt sie auf uns zu – dann der Ausruf: „Oh!! Chocolate!!“ Da nämlich hat sie die kleine Tüte mit Mozartkugeln entdeckt, die ihr Alfred bei der Begrüßung überreicht und damit offensichtlich ins Schwarze getroffen hat. Und schon fällt ihr Blick auf den Rahmen und ihr Bild im Arm von Sinatra. „That’s nice, that’s nice!“ Routiniert verlangt sie sogleich danach, ein Gruppenphoto zu schießen.
Jeder von uns wird persönlich begrüßt. Ihr Händedruck ist fest und dauert lange, und während der paar Worte, die wir mit ihr wechseln können, hört sie aufmerksam zu und blickt einem dabei direkt in die Augen. Das Gegenteil also von „Hello & Goodbye“ – das Ganze hat, trotz des Rummels drumherum, etwas sehr Natürliches an sich: Die Bühnenkönigin ist hier eher „Liza von nebenan“. Über die Komplimente für ihre tolle Show und unsere kleine Ehrung freut sie sich sichtlich. Beim Namen Sinatra leuchtet ihr Gesicht. „He was very close to my whole family“.
Sie bedankt sich nochmals, und dann ist sie schon wieder in ihrer Garderobe verschwunden.
Im Treppenhaus, das zum Ausgang unten an der Rheinuferstraße führt, sind schon die Roadies mit dem Abtransport der Instrumente und Gerätschaften beschäftigt. Der Ton ist rau; als wir die Treppe hinuntergehen, wird einer der Helfer gerade lautstark zusammengestaucht. Unten vor der Tür halten wir uns bei Lizas Abfahrt ein wenig abseits, um dann ein paar Minuten zu Jupps Auto zu gehen, gemeinsam nach Buer zu fahren und den Abend dort bis in den frühen Morgen ausklingen zu lassen.
Was wir Stunden zuvor in Düsseldorf erleben konnten, klingt dabei noch immer in unseren Ohren: Besser kann ein Konzert eigentlich nicht werden. Wir werden diesen Abend nie vergessen. Zu Lizas 60. Geburtstag kann es deshalb auch nur einen Wunsch für unser neues Ehrenmitglied geben:
Dear Liza: Many, many, many happy returns!
We’ll Be Seeing You.
(Wir bedanken uns bei Mustafa Metin, Gary Labriola und unserem Mitglied Florian Kerz für die freundliche Kooperation im Vorfeld, und natürlich ganz besonders bei Liza May Minnelli.)